9. Oktober 2025 Philipp Markus Wiedmaier Lesezeit: 10 Minuten

Elektrofahrzeuge fahren leise, vibrationsarm und „butterweich“. Genau das lieben viele – andere klagen aber über Schwindel, Übelkeit, Benommenheit oder Kopfschmerzen. Der Verdacht: E-Autos triggern Motion Sickness häufiger als Verbrenner. Dieser Artikel bündelt aktuelle Forschung, plausible Mechanismen und sofort umsetzbare Lösungen – damit Betroffene ihre Fahrten wieder beschwerdefrei genießen.

Kurzfazit vorab

  • Ja, es gibt wachsende Evidenz, dass E-Autos bei einem Teil der Menschen eher Reisekrankheit auslösen als Verbrenner.
  • Haupttreiber scheinen sensorische Mismatchs (fehlende Motor-/Vibrationshinweise), Regeneratives Bremsen/One-Pedal-Fahren, kräftige, ungewohnte Beschleunigung, Seitenkräfte sowie Blickabwendung (Displays, Lesen).
  • Am häufigsten betroffen: Passagiere (vorn/hinten), Menschen mit Reisekrankheit-Neigung, Migräne/vestibulären Störungen, hoher visueller Empfindlichkeit – und Personen ohne Gewöhnung an E-typische Fahrdynamik.
  • Die gute Nachricht: Mit Fahrstil-Feinschliff, Fahrzeug-Settings, Blick-/Sitz-Strategien und multisensorischen Hilfen lässt sich die Symptomlast meist deutlich senken.
  • Forschung entwickelt Gegenmaßnahmen (z. B. spezielle Ton-, Licht- und Innenraum-Cues).

1) Studienlage – was belegt ist (Stand 2024/2025)

Kleines, aber wachsenden Korpus: Mehrere Untersuchungen deuten auf höhere Anfälligkeit in E-Autos hin – besonders im Zusammenhang mit Regenerativem Bremsen, zu „glatter“ Fahrcharakteristik und fehlenden sensorischen Hinweisen (Motorgeräusch/Vibration). Ebenso gibt es neurophysiologische Arbeiten (EEG/fNIRS) in realen E-Fahrten, die typische Hirnnetzwerk-Muster bei einsetzender Übelkeit zeigen. Außerdem existieren Interventionsstudien (z. B. 100-Hz-Ton oder Innenraumlicht-Cues) mit messbarer Linderung. (Siehe Quellenverzeichnis.)

Was die Studien (noch) begrenzt: Häufig kleine Stichproben, Simulator-Settings statt Alltag, heterogene Designs. Dennoch ergibt sich ein konsistentes Bild: E-spezifische Dynamiken können die Schwelle zur Übelkeit senken – nicht bei allen, aber bei einer empfindlichen Minderheit.

2) Warum E-Autos anfälliger machen können – die Mechanismen

2.1 Sensorischer Mismatch (Kernmodell der Reisekrankheit)

Reisekrankheit entsteht, wenn Auge, Vestibularsystem und Propriozeption widersprüchliche Signale liefern. E-Autos reduzieren motorische/vibratorische Cues und Motorgeräusch – Reize, an die viele seit Jahren gewöhnt sind. Das Gehirn antizipiert Bewegung schlechter; schon moderate Beschleunigungs-/Bremsprofile können dadurch symptomatischer wirken.

2.2 Regeneratives Bremsen & One-Pedal-Fahren

Rekuperation erzeugt längere, niederfrequente Verzögerungen beim Lupfen des Fahrpedals – für sensible Personen fühlt sich das wie „zäher Widerstand/Quicksand“ an. Häufige Lastwechsel (Stop-and-Go, kurvige Stadtabschnitte) summieren Reize; der Übelkeitsscore steigt.

2.3 „Zu glatt“ und gleichzeitig „zu kräftig“

EVs sind ruckarm, aber gleichzeitig drehmomentstark. Schnelle Antritte und kräftige Querbeschleunigungen (tiefer Schwerpunkt, Reifenhaftung) können Passagiere überraschen – besonders, wenn sie nicht auf die Straße schauen.

2.4 Blickabwendung & Infotainment

Lesen/Nach-unten-Blicken verschärft Mismatch. Autonomiefunktionen (Level-2/-3) erhöhen die Versuchung, Displays zu nutzen; Motion-Scores steigen in Studien unter automatisiertem Fahren gegenüber aktivem Fahren.

2.5 Nacht & Innenraumlicht

In der Dunkelheit fehlen visuelle Referenzen. Erste Feldversuche deuten darauf, dass Innenraum-Lichtfarben (z. B. warmes Rot) Symptome mindern können.

3) Wer ist besonders gefährdet?

  • Vorgeschichte Reisekrankheit (See-/Bus-/Autosickness)
  • Migräne, vestibuläre Störungen, PPPD, höhere visuelle Empfindlichkeit
  • Passagiere (Fahrer sind durch aktive Kontrolle meist geschützt)
  • Neulinge im EV: fehlende Gewöhnung an Rekuperation/Antritt
  • Display-/Lesenutzung, Rückbank, kurvige/hügelige Strecken, Stop-and-Go

4) 20 wirksame Gegenmaßnahmen (sofort & praxiserprobt)

  1. Vorn sitzen & nach vorn raus schauen (Horizont fixieren).
  2. Fahrstil glätten: frühzeitig ausrollen, harte Lastwechsel vermeiden.
  3. Rekuperation moderat einstellen (nicht „max“), One-Pedal nur, wenn es nicht triggert.
  4. Tempomat/Adaptive Cruise auf gleichmäßige Fahrt nutzen.
  5. Display-/Lesepausen: keine Handy-Nutzung in Kurven (siehe Schwindel beim Autofahren), bei Berg-/Talstrecken.
  6. Mittelnahe Sitzposition (vorn, ggf. mittig hinten) → weniger Lateralschübe.
  7. Aktiv mitfahren (als Passagier Bewegungen antizipieren: Blick weit nach vorn).
  8. Frischluft/Belüftung erhöhen, kühle Luft ins Gesicht.
  9. Innenraumlicht testen (warm/rot bei Nachtfahrten).
  10. 100-Hz-Priming (1 Minute vor Fahrt über Kopfhörer testen).
  11. Musik mit positiver Valenz (upbeat/soft) – kann Symptome senken.
  12. Leichte Snacks statt leerem/voller Magen; hydration sichern.
  13. Ingwer (Bonbons/Kapseln) – klassischer Anti-Motion-Sickness-Tipp.
  14. Akupressur-Bänder (P6/Neiguan) am Handgelenk probieren.
  15. Sitzlehne & Kopfstütze so einstellen, dass Kopf stabil bleibt.
  16. Fahrzeug-Soundgenerator aktivieren (falls vorhanden) – zusätzliche Cues.
  17. Fahrwerks-/Reifen-Setup checken (extrem sportlich → ggf. komfortabler).
  18. Streckenwahl: zuerst weniger kurvig trainieren; Fahrzeit steigern.
  19. Medikamentöse Prophylaxe (arztlich abklären) bei langen Reisen.
  20. Gewöhnung statt Totalvermeidung: dosiert exponieren, dann pausieren – das Gehirn lernt.

5) Hersteller- & Zukunftsperspektiven

  • User-Tunable Rekuperation (feinere Stufen, adaptive Profile).
  • Multisensorische „Anti-MS“-Pakete: Sound/Vibration/duales Licht/Belüftung.
  • HMI-Design: Blick nach außen fördern, Heads-Up-Cues statt tief unten liegender Displays.
  • Komfort-Algorithmen in autonomen Modi (Kurvenradien, Querbe-Grenzen, Weitblick-Fahrweise).
  • Personalisierte Profile (biometrische Feedback-Loops via Wearables: Herzrate, Hautleitfähigkeit).

6) Medizinisch abklären – wann?

  • Neue, heftige oder progrediente Schwindelattacken
  • Neurologische Zusatzsymptome (Doppelbilder, Taubheit, Sprachstörung)
  • Synkopen, starker Tinnitus, Hörminderung
  • Ausufernde Angstvermeidung (PPPD-Kreislauf)

Adressaten: HNO/Neuro/Auge – differenzialdiagnostisch abklären, ggf. vestibuläre Therapie.

Fazit

Elektrofahrzeuge verändern die sensorische Choreografie des Fahrens: weniger Lärm, weniger Vibration, andere Verzögerungsprofile, andere Querbeschleunigungen – in Summe neue Vorhersageaufgaben für das Gehirn. Wer zu Reisekrankheit neigt oder visuell/vestibulär sensibel ist, spürt diese Verschiebung. Die Forschung ist noch jung, doch die Pfeile zeigen in eine Richtung: Bestimmte E-typische Reize senken die Schwelle für Motion Sickness bei einer Minderheit – keineswegs bei allen.

Die beste Praxis kombiniert Fahrzeug-Einstellungen (moderate Rekuperation, ruhige Fahrweise), Blick-/Sitz-Strategien (vorn sitzen, weit nach vorn schauen, Displays meiden), Innenraum-Optimierung (Frischluft, Licht), sensorische Cues (Sound/Vibration), Behavioral Hacks (Gewöhnung, Musik mit positiver Valenz, 100-Hz-Priming), und – bei Bedarf – medizinische Prophylaxe. So lassen sich Symptome häufig spürbar reduzieren, ohne die Vorteile des E-Antriebs aufzugeben.

Für Hersteller eröffnet sich ein Komfort-Innovationsfeld: Statt nur „leise & glatt“ gilt es, gezielte Orientierungscues einzubauen und individuelle Toleranzprofile zu berücksichtigen. Dann wird das Fahrgefühl der Zukunft nicht nur sauber, sondern auch körperfreundlich.

FAQ E-Autos & Schwindel – 20 Fragen & Antworten

  1. Sind E-Autos per se „schwindeliger“?
    Nicht für alle. Aber empfindliche Personen berichten häufiger Symptome als in Verbrennern.
  2. Warum trifft es Passagiere stärker als Fahrer?
    Fahrer antizipieren Bewegung aktiv; Passagiere werden „bewegt“ und schauen öfter weg.
  3. Ist Rekuperation wirklich ein Trigger?
    Ja, niederfrequente Verzögerung kann Mismatch verstärken – vor allem auf „max“.
  4. Hilft es, Rekuperation zu reduzieren?
    Oft ja. Moderate Stufen oder Mischbremsen wirken vielen angenehmer.
  5. Machen starke EV-Beschleunigungen krank?
    Kräftige Längs-/Quer-G-Spitzen können sensible Personen überfordern – besonders unvorbereitet.
  6. Spielt das Fehlen von Motorgeräusch eine Rolle?
    Ja, Audio-Cues fehlen – das erschwert Vorhersage und kann Mismatch verstärken.
  7. Warum ist mir nachts schneller übel?
    Weniger visuelle Referenz → Orientierung sinkt; passende Innenraum-Lichtfarben helfen.
  8. Was ist die wichtigste Sofortmaßnahme als Beifahrer?
    Nach vorn raus schauen, vorn sitzen, Displays meiden, Frischluft.
  9. Hilft Musik?
    Musik mit positiver Valenz (upbeat/soft) kann subjektive Übelkeit senken.
  10. 100-Hz-Ton – ernsthaft?
    Kurzfristiges Akustik-Priming zeigte in Studien Linderung – ausprobieren, ob’s passt.
  11. Was bringt ein künstlicher Motorsound?
    Kann als Cue dienen und Antizipation erleichtern – je nach Umsetzung hilfreich.
  12. Wer ist besonders gefährdet?
    Reisekranke, Migräne/vestibulär Betroffene, PPPD, Kinder, Personen ohne EV-Gewöhnung.
  13. Wie lange dauert die Gewöhnung?
    Individuell. Viele berichten nach Tagen bis Wochen deutliche Besserung.
  14. Sind bestimmte Sitze/Positionen besser?
    Vorne ist meist besser; hinten Mitte kann Querbewegungen reduzieren.
  15. Hilft medikamentöse Prophylaxe?
    Bei langen Reisen möglich, ärztlich abklären (Wirkung/Nebenwirkungen!).
  16. Was sollten Hersteller tun?
    Fein justierbare Rekuperation, Cues (Sound/Vibration/Licht), komfortorientierte Autonom-Profile.
  17. Ist autonomes Fahren schlimmer?
    Tendenziell ja (mehr Blickabwendung). Gute HMI-Cues können gegensteuern.
  18. Welche Rolle spielen Reifen/Fahrwerk?
    Sehr straff/sportlich kann Seitenkräfte betonen. Komfort-Tuning hilft manchen.
  19. Gibt es objektive Messungen?
    Ja: EEG/fNIRS, Hautleitfähigkeit, HRV etc. zeigen typische Muster bei einsetzender Übelkeit.
  20. Soll ich wegen Schwindel ganz auf EV verzichten?
    Nein. Setup + Strategien probieren – oft bekommt man es gut in den Griff.

Quellenverzeichnis

Philipp Markus Wiedmaier

Zuletzt aktualisiert am 09.10.2025

Autor: Philipp Markus Wiedmaier

Philipp Markus Wiedmaier ist der Gründer von Schwindelhelfer.de und selbst langjährig betroffen von Benommenheitsschwindel (auch bekannt als PPPD). Seit 2018 schreibt er über Symptome, Ursachen und Selbsthilfemethoden.

Sein Buch: Schwindel Helfer – Gemeinsam Schwindelfrei (ISBN: 978-1793479242).

Hinweis: Philipp ist kein Arzt. Die Inhalte beruhen auf eigenen Erfahrungen und ersetzen keine medizinische oder therapeutische Beratung.