Elektrofahrzeuge fahren leise, vibrationsarm und „butterweich“. Genau das lieben viele – andere klagen aber über Schwindel, Übelkeit, Benommenheit oder Kopfschmerzen. Der Verdacht: E-Autos triggern Motion Sickness häufiger als Verbrenner. Dieser Artikel bündelt aktuelle Forschung, plausible Mechanismen und sofort umsetzbare Lösungen – damit Betroffene ihre Fahrten wieder beschwerdefrei genießen.
Kurzfazit vorab
- Ja, es gibt wachsende Evidenz, dass E-Autos bei einem Teil der Menschen eher Reisekrankheit auslösen als Verbrenner.
- Haupttreiber scheinen sensorische Mismatchs (fehlende Motor-/Vibrationshinweise), Regeneratives Bremsen/One-Pedal-Fahren, kräftige, ungewohnte Beschleunigung, Seitenkräfte sowie Blickabwendung (Displays, Lesen).
- Am häufigsten betroffen: Passagiere (vorn/hinten), Menschen mit Reisekrankheit-Neigung, Migräne/vestibulären Störungen, hoher visueller Empfindlichkeit – und Personen ohne Gewöhnung an E-typische Fahrdynamik.
- Die gute Nachricht: Mit Fahrstil-Feinschliff, Fahrzeug-Settings, Blick-/Sitz-Strategien und multisensorischen Hilfen lässt sich die Symptomlast meist deutlich senken.
- Forschung entwickelt Gegenmaßnahmen (z. B. spezielle Ton-, Licht- und Innenraum-Cues).
1) Studienlage – was belegt ist (Stand 2024/2025)
Kleines, aber wachsenden Korpus: Mehrere Untersuchungen deuten auf höhere Anfälligkeit in E-Autos hin – besonders im Zusammenhang mit Regenerativem Bremsen, zu „glatter“ Fahrcharakteristik und fehlenden sensorischen Hinweisen (Motorgeräusch/Vibration). Ebenso gibt es neurophysiologische Arbeiten (EEG/fNIRS) in realen E-Fahrten, die typische Hirnnetzwerk-Muster bei einsetzender Übelkeit zeigen. Außerdem existieren Interventionsstudien (z. B. 100-Hz-Ton oder Innenraumlicht-Cues) mit messbarer Linderung. (Siehe Quellenverzeichnis.)
Was die Studien (noch) begrenzt: Häufig kleine Stichproben, Simulator-Settings statt Alltag, heterogene Designs. Dennoch ergibt sich ein konsistentes Bild: E-spezifische Dynamiken können die Schwelle zur Übelkeit senken – nicht bei allen, aber bei einer empfindlichen Minderheit.
2) Warum E-Autos anfälliger machen können – die Mechanismen
2.1 Sensorischer Mismatch (Kernmodell der Reisekrankheit)
Reisekrankheit entsteht, wenn Auge, Vestibularsystem und Propriozeption widersprüchliche Signale liefern. E-Autos reduzieren motorische/vibratorische Cues und Motorgeräusch – Reize, an die viele seit Jahren gewöhnt sind. Das Gehirn antizipiert Bewegung schlechter; schon moderate Beschleunigungs-/Bremsprofile können dadurch symptomatischer wirken.
2.2 Regeneratives Bremsen & One-Pedal-Fahren
Rekuperation erzeugt längere, niederfrequente Verzögerungen beim Lupfen des Fahrpedals – für sensible Personen fühlt sich das wie „zäher Widerstand/Quicksand“ an. Häufige Lastwechsel (Stop-and-Go, kurvige Stadtabschnitte) summieren Reize; der Übelkeitsscore steigt.
2.3 „Zu glatt“ und gleichzeitig „zu kräftig“
EVs sind ruckarm, aber gleichzeitig drehmomentstark. Schnelle Antritte und kräftige Querbeschleunigungen (tiefer Schwerpunkt, Reifenhaftung) können Passagiere überraschen – besonders, wenn sie nicht auf die Straße schauen.
2.4 Blickabwendung & Infotainment
Lesen/Nach-unten-Blicken verschärft Mismatch. Autonomiefunktionen (Level-2/-3) erhöhen die Versuchung, Displays zu nutzen; Motion-Scores steigen in Studien unter automatisiertem Fahren gegenüber aktivem Fahren.
2.5 Nacht & Innenraumlicht
In der Dunkelheit fehlen visuelle Referenzen. Erste Feldversuche deuten darauf, dass Innenraum-Lichtfarben (z. B. warmes Rot) Symptome mindern können.
3) Wer ist besonders gefährdet?
- Vorgeschichte Reisekrankheit (See-/Bus-/Autosickness)
- Migräne, vestibuläre Störungen, PPPD, höhere visuelle Empfindlichkeit
- Passagiere (Fahrer sind durch aktive Kontrolle meist geschützt)
- Neulinge im EV: fehlende Gewöhnung an Rekuperation/Antritt
- Display-/Lesenutzung, Rückbank, kurvige/hügelige Strecken, Stop-and-Go
4) 20 wirksame Gegenmaßnahmen (sofort & praxiserprobt)
- Vorn sitzen & nach vorn raus schauen (Horizont fixieren).
- Fahrstil glätten: frühzeitig ausrollen, harte Lastwechsel vermeiden.
- Rekuperation moderat einstellen (nicht „max“), One-Pedal nur, wenn es nicht triggert.
- Tempomat/Adaptive Cruise auf gleichmäßige Fahrt nutzen.
- Display-/Lesepausen: keine Handy-Nutzung in Kurven (siehe Schwindel beim Autofahren), bei Berg-/Talstrecken.
- Mittelnahe Sitzposition (vorn, ggf. mittig hinten) → weniger Lateralschübe.
- Aktiv mitfahren (als Passagier Bewegungen antizipieren: Blick weit nach vorn).
- Frischluft/Belüftung erhöhen, kühle Luft ins Gesicht.
- Innenraumlicht testen (warm/rot bei Nachtfahrten).
- 100-Hz-Priming (1 Minute vor Fahrt über Kopfhörer testen).
- Musik mit positiver Valenz (upbeat/soft) – kann Symptome senken.
- Leichte Snacks statt leerem/voller Magen; hydration sichern.
- Ingwer (Bonbons/Kapseln) – klassischer Anti-Motion-Sickness-Tipp.
- Akupressur-Bänder (P6/Neiguan) am Handgelenk probieren.
- Sitzlehne & Kopfstütze so einstellen, dass Kopf stabil bleibt.
- Fahrzeug-Soundgenerator aktivieren (falls vorhanden) – zusätzliche Cues.
- Fahrwerks-/Reifen-Setup checken (extrem sportlich → ggf. komfortabler).
- Streckenwahl: zuerst weniger kurvig trainieren; Fahrzeit steigern.
- Medikamentöse Prophylaxe (arztlich abklären) bei langen Reisen.
- Gewöhnung statt Totalvermeidung: dosiert exponieren, dann pausieren – das Gehirn lernt.
5) Hersteller- & Zukunftsperspektiven
- User-Tunable Rekuperation (feinere Stufen, adaptive Profile).
- Multisensorische „Anti-MS“-Pakete: Sound/Vibration/duales Licht/Belüftung.
- HMI-Design: Blick nach außen fördern, Heads-Up-Cues statt tief unten liegender Displays.
- Komfort-Algorithmen in autonomen Modi (Kurvenradien, Querbe-Grenzen, Weitblick-Fahrweise).
- Personalisierte Profile (biometrische Feedback-Loops via Wearables: Herzrate, Hautleitfähigkeit).
6) Medizinisch abklären – wann?
- Neue, heftige oder progrediente Schwindelattacken
- Neurologische Zusatzsymptome (Doppelbilder, Taubheit, Sprachstörung)
- Synkopen, starker Tinnitus, Hörminderung
- Ausufernde Angstvermeidung (PPPD-Kreislauf)
Adressaten: HNO/Neuro/Auge – differenzialdiagnostisch abklären, ggf. vestibuläre Therapie.
Fazit
Elektrofahrzeuge verändern die sensorische Choreografie des Fahrens: weniger Lärm, weniger Vibration, andere Verzögerungsprofile, andere Querbeschleunigungen – in Summe neue Vorhersageaufgaben für das Gehirn. Wer zu Reisekrankheit neigt oder visuell/vestibulär sensibel ist, spürt diese Verschiebung. Die Forschung ist noch jung, doch die Pfeile zeigen in eine Richtung: Bestimmte E-typische Reize senken die Schwelle für Motion Sickness bei einer Minderheit – keineswegs bei allen.
Die beste Praxis kombiniert Fahrzeug-Einstellungen (moderate Rekuperation, ruhige Fahrweise), Blick-/Sitz-Strategien (vorn sitzen, weit nach vorn schauen, Displays meiden), Innenraum-Optimierung (Frischluft, Licht), sensorische Cues (Sound/Vibration), Behavioral Hacks (Gewöhnung, Musik mit positiver Valenz, 100-Hz-Priming), und – bei Bedarf – medizinische Prophylaxe. So lassen sich Symptome häufig spürbar reduzieren, ohne die Vorteile des E-Antriebs aufzugeben.
Für Hersteller eröffnet sich ein Komfort-Innovationsfeld: Statt nur „leise & glatt“ gilt es, gezielte Orientierungscues einzubauen und individuelle Toleranzprofile zu berücksichtigen. Dann wird das Fahrgefühl der Zukunft nicht nur sauber, sondern auch körperfreundlich.
FAQ E-Autos & Schwindel – 20 Fragen & Antworten
- Sind E-Autos per se „schwindeliger“?
Nicht für alle. Aber empfindliche Personen berichten häufiger Symptome als in Verbrennern. - Warum trifft es Passagiere stärker als Fahrer?
Fahrer antizipieren Bewegung aktiv; Passagiere werden „bewegt“ und schauen öfter weg. - Ist Rekuperation wirklich ein Trigger?
Ja, niederfrequente Verzögerung kann Mismatch verstärken – vor allem auf „max“. - Hilft es, Rekuperation zu reduzieren?
Oft ja. Moderate Stufen oder Mischbremsen wirken vielen angenehmer. - Machen starke EV-Beschleunigungen krank?
Kräftige Längs-/Quer-G-Spitzen können sensible Personen überfordern – besonders unvorbereitet. - Spielt das Fehlen von Motorgeräusch eine Rolle?
Ja, Audio-Cues fehlen – das erschwert Vorhersage und kann Mismatch verstärken. - Warum ist mir nachts schneller übel?
Weniger visuelle Referenz → Orientierung sinkt; passende Innenraum-Lichtfarben helfen. - Was ist die wichtigste Sofortmaßnahme als Beifahrer?
Nach vorn raus schauen, vorn sitzen, Displays meiden, Frischluft. - Hilft Musik?
Musik mit positiver Valenz (upbeat/soft) kann subjektive Übelkeit senken. - 100-Hz-Ton – ernsthaft?
Kurzfristiges Akustik-Priming zeigte in Studien Linderung – ausprobieren, ob’s passt. - Was bringt ein künstlicher Motorsound?
Kann als Cue dienen und Antizipation erleichtern – je nach Umsetzung hilfreich. - Wer ist besonders gefährdet?
Reisekranke, Migräne/vestibulär Betroffene, PPPD, Kinder, Personen ohne EV-Gewöhnung. - Wie lange dauert die Gewöhnung?
Individuell. Viele berichten nach Tagen bis Wochen deutliche Besserung. - Sind bestimmte Sitze/Positionen besser?
Vorne ist meist besser; hinten Mitte kann Querbewegungen reduzieren. - Hilft medikamentöse Prophylaxe?
Bei langen Reisen möglich, ärztlich abklären (Wirkung/Nebenwirkungen!). - Was sollten Hersteller tun?
Fein justierbare Rekuperation, Cues (Sound/Vibration/Licht), komfortorientierte Autonom-Profile. - Ist autonomes Fahren schlimmer?
Tendenziell ja (mehr Blickabwendung). Gute HMI-Cues können gegensteuern. - Welche Rolle spielen Reifen/Fahrwerk?
Sehr straff/sportlich kann Seitenkräfte betonen. Komfort-Tuning hilft manchen. - Gibt es objektive Messungen?
Ja: EEG/fNIRS, Hautleitfähigkeit, HRV etc. zeigen typische Muster bei einsetzender Übelkeit. - Soll ich wegen Schwindel ganz auf EV verzichten?
Nein. Setup + Strategien probieren – oft bekommt man es gut in den Griff.
Quellenverzeichnis
- Ren, B. et al. (2024). A Brain Network Analysis Model for Motion Sickness Based on EEG and fNIRS in Electric Vehicles (Feifan F7). Sensors. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11510973
- Gu, Y. et al. (2025). Just 1-min Exposure to a 100-Hz Pure Tone May Improve Motion Sickness. Environmental Health and Preventive Medicine. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/39486345
- Xie, W. et al. (2025). Exploring the Effects of Regenerative Braking on Motion Sickness in EVs. International Journal of Human–Computer Interaction. https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/09544070241251521
- Frontiers in Psychology (2025). Physiological and Behavioral Markers of Motion Sickness in Real Electric Vehicle Driving. https://www.frontiersin.org/journals/psychology/articles/10.3389/fpsyg.2025.1615498/abstract
- Interesting Engineering (2025). How a 100-Hz Sound Can Reduce Motion Sickness in Electric Cars. https://interestingengineering.com/science/hertz-motion-sickness-electric-cars
- The Drive (2025). Science Finally Explains Why People Get More Carsick in EVs. https://www.thedrive.com/news/science-finally-explains-why-people-get-more-carsick-in-evs
- Kelley Blue Book (2025). EVs Increase Motion Sickness Because They’re Too Smooth. https://kbb.com/car-news/evs-increase-motion-sickness-because-theyre-too-smooth
- The Guardian (21 Juni 2025). Do Electric Vehicles Make People More Carsick? https://www.theguardian.com/environment/2025/jun/21/electric-vehicles-motion-sickness
- The Guardian (13 September 2025). ‘Extreme Nausea’: Are EVs Causing Car Sickness? https://www.theguardian.com/environment/2025/sep/13/evs-cause-car-sickness
- The Times (2025). Are You More Likely to Get Motion Sickness in an Electric Car? https://www.thetimes.co.uk/article/are-you-more-likely-to-get-motion-sickness-in-an-electric-car
- EurekAlert! (2025). Nighttime Driving: Red Light Reduces Motion Sickness in Automated Vehicles (Feifan F7). https://eurekalert.org/news-releases/2025-09-red-light-motion-sickness
- ResearchGate (2025). Motion Sickness in Autonomous Driving: Comparative Neurophysiological Review. https://researchgate.net/publication/371202705_Motion_Sickness_in_Autonomous_Driving
- New York Post Health (2025). EVs and Motion Sickness: What Science Says. https://www.nypost.com/health/evs-and-motion-sickness-science
- Guangzhou University (2025). Comprehensive Review of Motion Sickness Mechanisms in Electric Vehicles. https://www.gu.edu.cn/paper2025_motion_sickness_in_ev